Geschrieben von Fachexperten: Anton-Skornyakov-Agile-Coach Anton Skornyakov, Certified Scrum Trainer®

Was ist Scrum?

Manager und Team, klassische Delegation

Der Begriff Scrum wird heute viel in der Welt der Software- und Produktentwicklung verwendet. Dessen Anwendung kann aber viel weiter gefasst werden. Als agiler Coach arbeite ich (Anton) vermehrt mit Organisationen, die wenig mit Software zu tun haben. Eine Hauptentlastung, die Scrum dort ermöglicht, ist die Selbstorganisation durch neue Rollen und Verantwortlichkeiten. Um das zu erklären widmen wir uns in diesem Beitrag dem Framework – Scrum – komplett unabhängig vom Thema Software und Produktentwicklung.

Hier geht es um die Frage: “Was ist Scrum?” mit einem speziellen Blickwinkel – Delegation von Arbeit: “Wie delegiert man Arbeit von Leitungsperson zu den Mitarbeitern unter Benutzung von Scrum?”.

Aus meiner Erfahrung hilft diese Perspektive vielen Menschen, die Essenz von Scrum zu verstehen. Wenn Sie sich für das Thema Führung in Organisationen interessieren und dessen Verbindung mit Scrum besser verstehen möchten, sollte dieser Eintrag Ihnen helfen. Wenn Sie sich mit „New Work“ auskennen, hilft es Ihnen zu verstehen, was Scrum mit “New Work” zu tun hat.

Inhaltsverzeichnis

Die Herausforderung – eine Geschichte

Anna
Anna

Das ist Anna, die Hauptprotagonistin unserer ausgedachten Geschichte. Sie arbeitet seit 3 Jahren bei CleverPad&Guest, einem ursprünglich kleinen StartUp, das ein Produkt an Geschäftskunden verkauft. Machen wir es konkreter, sie verleihen voreingestellte und leicht konfigurierbare iPads an Hotels.

Anna’s Aufgabe war früher Vertrieb. Am Anfang waren außer Anna noch vier andere Menschen in der Firma beschäftigt, aber sie haben alle andere Dinge gemacht. 

Anna hat ihre Aufgabe großartig gemacht. Sie ist mit ihren Aufgaben gewachsen, hat eigene Prozesse aufgesetzt, um sich die Arbeit leichter zu machen. Sie hat eigene Listen für Kunden eingeführt, kleine Makros/Automatisierungen gebaut und sich einen eigenen Prozess für die Beantwortung und das Nachverfolgen von Kundenanfragen per E-Mail und Telefon eingeführt. Auch hat sie eigene Regeln entwickelt, wie sie eine hohe Kundenzufriedenheit sicherstellt und auch intern kontrolliert, dass alle Verkäufe gut bedient werden. 

Anna und ihre Prozesse
Anna und alle ihre Prozesse in ihrem Kopf

Nach nunmehr 3 Jahren hat das StartUp bewiesen, dass es ein sehr erfolgreiches Geschäftsmodell entwickelt hat. Die Gründer haben ein großes Investment gesichert und wollen jetzt innerhalb von wenigen Monaten im Vertrieb wachsen. Es sollen im Vertrieb 5-6 neue Menschen eingestellt werden. Die Leitung übernimmt natürlich Anna. Sie hat schließlich das gesamte Fachwissen und -expertise und verdient es auch befördert zu werden.

Anna steht jetzt vor einer großen Delegations-Herausforderung. Die Vertriebsaufgaben, die sie vorher allein erledigt hat, müssen so schnell wie möglich von neuen, ihr noch nicht bekannten Menschen, übernommen werden. Diese Menschen haben unterschiedliche eigene Vertriebserfahrungen und -talente, weswegen sie auch eingestellt worden sind. 

Anna kann diese neue Führungsaufgabe auf unterschiedliche Weise angehen. Im Folgenden stelle ich in zugespitzter Form zwei verschiedene Vorgehen dar. Eine, die ich als klassisch-hierarchisch bezeichne und eine andere, die auf Selbstorganisation mit Scrum setzt. 

Klassische Herangehensweise an Delegation

Am Anfang gibt es eine Übergabephase, in der die neuen Mitarbeiter neue Aufgaben übernehmen. Es könnte z.B. so ablaufen:

Anna identifiziert in ihren eigenen Prozessen Schritte, die sie an ihre neuen Kollegen abgeben kann. Sie erklärt ihnen die genaue Arbeit in jedem Schritt, sie zeigt ihnen, wie sie es im Moment selbst macht und beantwortet, die dabei entstehenden Fragen. Solche Schritte sind z.B.:

  • Erstanruf eines Interessenten
  • Entwurf eines Rahmenvertrags
  • 1. Nachgespräch mit Kunde 14 Tage nach Verkauf
  • etc.

Nach einigen Wochen, wenn die Mitarbeiter einzelne Schritte des Prozesses beherrschen, übergibt sie weitere Arbeitsschritte. Sie kontrolliert dabei, wie gut die jeweiligen Personen mit ihren Aufgaben klarkommen. Wenn Fehler passieren, ist sie zur Stelle und korrigiert und erklärt. 

Irgendwann ist die Übergabephase größtenteils vorbei, die Routine hat eingesetzt:

  • Anna weiß, wer was gut und weniger gut kann
  • Alle Mitarbeiter kennen ihre typischen Aufgaben, wissen wie und wo sie Dinge nachhalten und wer in welchen Fällen kontaktiert wird.
  • Anna spielt eine wichtige Rolle bei größeren Konflikten, die Abwägungen erfordern oder wichtige Budgets / Kunden betreffen.
  • Sie hat auch kontrollierende und strategische Tätigkeiten
    • Sie erfasst und berichtet wichtige Vertriebs-Kennzahlen.
    • Sie macht sich Gedanken über Neuerungen/Änderungen im Vertriebsprozess, z.B. bei der Einführung neuer zusätzliche Produkte oder Marketingkanäle.
  • Sie hat auch die personelle Leitungsfunktion
    • Sie gewährt Urlaube, entscheidet über Gehälter und Beförderungen.
Manager und Team, klassische Delegation
Anna hat den Prozess in ihrem Kopf und übergibt Aufgaben an ihre Mitarbeiter.

Hier eine kleine Auflistung typischer Herausforderungen in diesem System:

Informationsasymmetrie 

Mit der Hierarch kommt auch, dass Anna sich häufig mit den anderen Managern trifft, um dort unternehmensübergreifende Themen zu besprechen. Aus diesen Treffen und dem größeren Kontext den sie sieht, ergeben sich Änderungen und Aufgaben für ihre Mitarbeiter – zum Beispiel eine Änderung der Produktpalette. Für die Mitarbeiter ist der Kontext solcher Änderungen nicht offensichtlich. Anna kommuniziert es zwar, es passiert aber dennoch, dass später die Ergebnisse nicht der gestellten Aufgabe entsprechen.

Wenn Anna mal von diesen Themen frustriert ist, sagt sie, dass ihre Kollegen nicht genug “mitdenken”.

Asymmetrie in der Verantwortung für Vertrieb aus Firmensicht

Es kommen auch mal schwere Zeiten auf den Vertrieb zu. Manchmal gibt es Monate oder Wochen, wenn alle Kunden gleichzeitig etwas möchten, oder es ist jemand krank und schwer zu ersetzen. In solchen Fällen ist Anna verantwortlich irgendwie dafür sorgen, dass der Betrieb weiterläuft. Es müssen schwierige Kompromisse gefunden werden. Anna spricht mit allen Mitarbeitern, verhandelt mit Einzelnen und spricht auch mal ein Machtwort.

Es ist Anna’s Aufgabe für dafür zu Sorgen, dass der Vertrieb läuft. Ihre Mitarbeiter fühlen sich nicht so sehr der Firma als Anna verantwortlich. Weil Entscheidungen immer auch für Einzelne ungünstig sind, passiert es dass sie Entscheidungen nicht verstehen und sich ärgern. Sie fühlen sich unfair behandelt. Oder es gibt persönliche Konflikte mit Anna.

Asymmetrie in der Verantwortung für Prozesse und Ergebnisse

Anna überlegt sich in ihrer Rolle immer wieder neue Dinge, wie sie bestehende Prozesse verbessern kann. Weil es eine ihrer Hauptaufgaben ist, hat sie dazu die Zeit, die Übersicht und die Kennzahlen. Ihre Mitarbeiter haben diese Zeit und die Übersicht nicht.

Sie überlegt immer, wie sie die Neuerungen ihren Kollegen “verkauft”. Bei schwierigen Vorschlägen, die vielleicht unangenehm sind oder größere Umgewöhnungen bedeuten, überlegt sie, wie sie die negative Nachricht an ihre Mitarbeiter mit etwas Angenehmen verschönern kann. Die Untergebenen spüren das natürlich. Daraus entsteht häufig ein Spiel aus Fordern und Jammern. Diese Dynamik führt dazu, dass Neuerungen meist mit dem Widerstand der Untergebenen einhergehen, egal ob sie Sinn machen oder nicht.

Anna weiß nicht, ob Änderungen, die sie vorschlägt, wirkungslos oder noch schlimmer kontraproduktiv sein werden. Sie weiß nach dem großen Spiel (siehe Fordern und Jammern) einer durchgesetzten Neuerung, würde sie ihren Stand (ihr Ansehen, ihre Glaubwürdigkeit, ihre Rückendeckung) verlieren, wenn rauskommen würde, dass es keine Wirkung hatte. Deshalb setzt sie irgendwann nur die Dinge um, von denen sie sehr sicher ist, dass sie Verbesserungen darstellen. Und wenn Dinge scheitern, dann ist es unklar, ob sie daran scheitern, dass es schlechte Ideen waren oder sie von den Mitarbeitern nicht mitgetragen wurden. Eine Atmosphäre der Stagnation entsteht. So werden viele gute Ideen gar nicht erst ausprobiert. 

Anna weiß in der Regel auch nicht, was ihre Mitarbeiter selbst verbessern würden. Wenn sie in der Arbeit ihrer Kollegen Dinge bemerkt, die aus ihrer Sicht (sie hat es ja selbst 3 Jahre lang gemacht) viel einfacher zu machen wären, spricht sie sie darauf an. Aber diese fühlen sich (z.B. mit Makros) nicht sicher oder können nicht so gut tippen. Und so stellt Anna (häufig innerlich nur für sich) die Kompetenz ihrer Mitarbeiter in Frage.

Ungenutzte Talente und Kenntnisse

Gleichzeitig bleiben viele Talente der Mitarbeiter ungenutzt. Die Talente, die in von Anna gestaltete Prozesse passen, können die Mitarbeiter natürlich direkt einsetzen. Auch können Mitarbeiter Dinge an der eigenen Arbeitsweise verändern, wenn es niemand anders betrifft.

Andere Dinge, die ihre Kollegen vielleicht gern ausprobieren würden, wie andere Tools oder alternative / neue Methoden für Vertrieb, haben keinen Platz. Vielleicht bringen sich einige dieser Kollegen am Anfang ein und können Anna von einzelnen Ideen überzeugen. Aber mit der Zeit, merken die Mitarbeiter, dass das von ihnen gar nicht verlangt und belohnt wird, und sie investieren selbst weniger/keine Zeit mehr. 

Anna definiert alle Prozesse selbst, obwohl sie die Arbeit nicht mehr selbst macht

Folge: Mitarbeiter Motivation sinkt

Ist die Routine einmal eingestellt, sind die Mitarbeiter die Ausführenden in einem von Anna gesteuerten Prozess. Das Unternehmen ist typischerweise nicht nur im Vertrieb, sondern auch in allen anderen Abteilungen gewachsen. Die Vertriebler übergeben dann ihre Aufgaben an andere interne Mitarbeiter, die ähnlich wie sie, auch den Prozessen ihrer Vorgesetzten folgen.  Selbst wenn sie gerne in der Firma arbeiten, sie können sich nur einbringen, indem sie die Arbeit an ihrer Stelle im Prozess gut machen. 

Folge: Probleme bei großen Neuerungen/Änderungen im Prozess 

Wenn in der Firma größere Veränderungen stattfinden, die den Vertrieb betreffen, zeigen sich viele der oben aufgeführten Probleme zusammen. Angenommen es wird ein neues zusätzliches Produkt eingeführt, welches mitverkauft werden soll. Das hat andere Stakeholder beim Kunden, andere Lieferzeiten, andere Bedingungen. 

Anna entwirft und bereitet solch eine Einführung typischerweise vor. Ein Prozess wird entworfen. Irgendwann werden Mitarbeiter geschult. Der Prozess läuft an. Es gibt Probleme. Irgendwann werden sie an Anna kommuniziert. Sie passt den Prozess an. Je größere die Asymmetrie in der Verantwortung und in der Information, desto geringer die Motivation

Je geringer die Motivation, desto langsamer wird dieser Anpassungsprozess stattfinden.

Lokale Lösungen greifen zu kurz

Wenn man sich die obigen Beispiele von zugespitzten Problem-Szenarien anschaut, dann kann man viele Ideen entwickeln, was Anna machen könnte, um das Problem in jedem einzelnen Fall zu beheben:

  • Mitarbeitern wenn nötig mehr Kontext geben
  • Mitarbeitern die Lösung eines konkretes Problems selbst überlassen
  • Mitarbeiter regelmäßig nach ihrem Input für Prozesse fragen und diesen manchmal umsetzen
  • Mitarbeiter früher in einen großen Änderungsprozess involvieren.

Aber alle diese Ideen (obwohl wertvoll) sind für Anna mit viel Aufwand verbunden. Und es kann sehr erschöpfend sein, gleichzeitig zu versuchen die Allein-Verantwortliche, klassische Vorgesetzte zu sein und alle Mitarbeiter einzubeziehen.

Schauen wir uns nun die Selbstorganisation mit Scrum an. Hier ist Anna nämlich nicht in alle Prozesse involviert. Sie ist frei sich nur auf wenige relevante Dinge zu konzentrieren und kann vieles der Kreativität, Intelligenz und Arbeitskraft ihrer Mitarbeiter überlassen. 

Finaler Zustand mit (Scrum-) Selbstorganisation im Vertrieb

Bevor wir über uns darüber unterhalten können, wie die Übergangsphase zur Selbstorganisation aussieht, sollten wir uns den finalen Zustand einer selbstorganisierten Vertriebsabteilung anschauen. Dadurch wird auch klarer, was es in der Übergangsphase braucht.

Hier nun ein Beispiel, wie eine solche Vertriebsabteilung aussehen könnte. 

Prozessrahmen und Verantwortungsverteilung bei Selbstorganisation

Der Kern des Prozessrahmens den Anna ihrem Team gibt, könnte so lauten:

“Ihr alle [5-6 Vertriebsmitarbeiter] bildet ein Team, das gemeinsam die Verantwortung dafür trägt das Auftragsvolumen und andere Vertriebsaufgaben zu erledigen. Ihr verantwortet und entscheidet selbst, wie Eure Arbeitsprozesse aussehen, solange sie folgenden Vorgaben entsprechen:

Innerhalb einer festen und gleichbleibenden Zeiteinheit (Sprint) – zum Beispiel 2 Wochen – liefert ihr komplett-abgearbeitete Ergebnisse zu einer von uns gemeinsam definierten Qualität (Definition of Done) ab. Dazu gehören neue geschlossene Verträge, generierte Leads, Änderung der Produktpalette und andere Aufgaben. Ich (Product Ownerin) bestimme die Reihenfolge (Product Backlog) in welcher ihr die Aufgaben erledigt. Wie viele Aufgaben ihr Euch für einen Sprint vornimmt, bestimmt ihr selbst. Wir besprechen immer vorher alle Fragen und Details zu allen Aufgaben im Product Backlog (Product Backlog Verfeinerung). Ich helfe Euch auf Anfrage bei allen Details, aber die endgültige Verantwortung für die Ergebnisse liegt bei Euch.

Ihr erstellt am Anfang des Sprints einen gemeinsamen Plan (Sprint Planning) und synchronisiert Euch täglich (Daily Scrum), um zu wissen, wer was machen muss. Wenn der Sprint zu Ende ist, untersuchen wir gemeinsam die Ergebnisse Eures Sprints (Sprint Review) und danach untersuchen und verbessern wir unsere Prozesse für die folgenden Sprints (Sprint Retrospective).”

Anna gibt ihrem Team den Rahmen und Ziele vor. Sie füllen ihn aus mit ihren Prozessen.

Den Kern von Scrum bilden diese zuletzt genannten 3 Lern-Schleifen, die das selbstverantwortliche Team durchläuft. 

Und weil das Team alle Probleme & Fehler durch die Lernschleifen selbst erkennen wird, kann Anna sich als Führungsperson darauf konzentrieren den Mitarbeitern Kontext, Richtung und Unterstützung zu geben, damit diese besser werden. Das ist Delegation mit Scrum.

Im Folgenden beschreibe ich, wie das konkret aussehen könnte.

Planung der zukünftigen Arbeit mit Scrum

Die längerfristig geplante Arbeit des Teams mit allen größeren anstehenden Projekten steht im Product Backlog. Es ist nach Wichtigkeit geordnet. (Sicherlich wird das Vertriebsteam ihm einen passenderen Namen geben, z.B. Vertriebsbacklog). Ein solches Backlog könnte zum Beispiel solche Einträge haben wie:

  1. 560 geschlossene Verträge für Rest von 2020
  2. 2400 qualifizierte Leads für Rest von 2020
  3. Einführung Zusatzdienstleistung  “24hour iPad Auswechseln”
  4. Aftersales Übergabe an Dienstleister “KlasseTypen GmbH”
  5. Experiment Vertrieb Messeveranstalter

Ablauf eines beispielhaften Sprints mit Scrum

Sprint Planning

Am Anfang des neuen Sprints entscheidet das Team, wie viele der höchsten Einträge des Product Backlogs es in diesem Sprint schaffen kann. Dann plant es diese Arbeitseinheiten konkret. Für Routinearbeit wie Anrufe nimmt sich das Team ein bestimmtes Auftragsvolumen und Leadvolumen vor. Dazu werden dann zum Beispiel für alle Sprinttage die konkreten Personen, die telefonieren werden, in einen Team-Kalender eingetragen. Für einmalige Dinge wie Einführung einer neuen Dienstleistung plant das Team gemeinsam Arbeitsschritte z.B.: 

  • Kommunikationspfad 1. Version
  • Vertragszusatz 1. Version
  • 30 Anrufe jeweils 10 von unterschiedlichen Mitarbeitern
  • Interner Debrief + Anpassung Vertragszusatz + Kommunikationspfad
  • Kurzbericht erstellen

Alle diese Notizen/Arbeitseinheiten bilden zusammen das Sprintbacklog – den Plan für den Sprint. 

Daily Scrum

Jeden Tag trifft sich das Team z.B. um 11:30 und schaut auf das Sprintbacklog und bespricht miteinander, was sich seit dem letzten Daily daran verändert hat und was in den nächsten 24 Stunden ansteht und plant seine Zusammenarbeit dazu. Typischerweise sind einige Dinge fertig geworden, neue Dinge werden in Angriff genommen, Menschen bitten um Hilfe oder stellen Fragen, um den Stand besser zu verstehen. Anna ist nicht notwendigerweise beim Daily dabei, denn es ist kein Treffen, um ihr zu berichten. Sie kann den Fortschritt der Arbeit problemlos am Sprintbacklog mitverfolgen. 

Product Backlog Verfeinerung

Manchmal klärt Anna mit ihrem Team die Zukunftspläne etwas besser, dazu schaut es sich das Product Backlog an. Die Aufgaben die noch sehr unklar sind, werden besprochen und besser verstanden, sodass sie irgendwann in einem Sprint Planning (siehe oben) in Angriff genommen werden können.

Sprint Review

Am Ende des Sprints kommt das Team zusammen, typischerweise kommen auch Vertreter anderer Abteilungen und möglicherweise auch Partnerunternehmen dazu und alle Ergebnisse des Sprints werden undogmatisch aber kritisch angeschaut. Wurde das Vertragsvolumen erreicht? Ist die Produkteinführung geglückt? Hier kommt auch Feedback von anderen Abteilungen oder Kunden. Dadurch lernt das Team zusammen, ob sie mit diesem Sprint seinem Ziel (vereinfacht: großartig funktionierender Vertrieb) näher gekommen sind. Diese Überprüfung, ob wir unserem langfristigen Ziel näher gekommen sind, ist der Kern des Sprint Reviews.

Sprint Retrospective

Nach dem Review trifft sich das Team typischerweise ohne Externe und verbessert seine eigenen Prozesse. Dabei beschäftigt es sich auch insbesondere mit den menschlichen Aspekten der Arbeit (Konflikten, Missverständnissen, Absprachen, etc.). Das ist der Kern der Lernschleife in der Sprint Retrospective.

Damit endet ein Sprint und der nächste Sprint beginnt vom Neuen.

Wenn Sie beim Lesen viele Momente von Unglauben hatten, wie das funktionieren soll/kann: Sie sind sicherlich nicht allein. Und es funktioniert. Es funktioniert in vielen vielen Teams und Unternehmen. Eine der wichtigsten Zutaten, damit es gelingen kann, ist die Rolle eines Coaches der Anna und das Team dabei unterstützt diese Verantwortungsübertragung umzusetzen. Diesen Coach nennt man – Scrum Master. Lesen Sie weiter unten mehr dazu, wie diese Übergangsphase aussehen kann. 

Scrum Master Training mit Zertifizierung

Manche sagen Scrum wäre leicht zu verstehen, aber schwer zu meistern. Wir legen Wert darauf, dass Sie alle Rollen, Events und Artefakte verstehen und unmittelbar selbst anwenden.

Training zur Scrum Master Zertifizierung

Gewonnene Vorteile durch Selbstorganisation/Scrum

Schauen wir uns kurz an, wie sich die oben aufgeführten Herausforderungen in diesem Arbeitssystem auswirken.

Informationsasymmetrie

Es wird wahrscheinlich immer noch so sein, dass Anna als Product Owner, viel mehr vom Firmen-Kontext versteht, da sie einfach mehr Zeit hat, sich damit zu beschäftigen. Aber das Team entscheidet selbst, wie es Dinge bearbeitet. Das heißt, durch die Rahmenbedingungen selbst, ist Anna gefordert ihrem Team ausreichend Hintergrundinformation zur Verfügung zu Stellen. Die Verantwortung Fragen zu stellen und die Aufgabe verstehen ist bei denen, die die Aufgabe selbst erledigen, dem Team. Das entspannt Anna, sie muss die Aufgaben nicht selbst durchdenken, so als wäre sie für die Bearbeitung zuständig. Sie muss aber sicherstellen, dass alle möglichen Fragen ihres Teams beantwortet werden. Für die Bearbeitung der konkreten Aufgaben ist dadurch die grundsätzlich vorhandene Informationsasymmetrie nicht mehr hinderlich.

Verantwortung für Ziele und Prozesse

In schwierigen Zeiten des Teams, wenn viel Arbeit ansteht oder hoher Krankenstand herrscht, muss sich das Team damit beschäftigen, wie es trotzdem arbeitsfähig bleibt bzw. wie es die Erwartungen der Umwelt managt. Ggf. unangenehme Entscheidungen werden durch die Kollegen selbst getroffen. So haben sie selbst die Möglichkeit die besten Optionen zu finden. Zum Beispiel: Eine Person kommt besonders früh, darf dafür viel früher gehen um Kinder aus der KiTa abzuholen und arbeitet dann am Abend noch 2 Stunden E-Mails ab. So etwas hätte Anna selbst nie vorschlagen können. Alle sehen gemeinsam der unangenehmen Situation ins Gesicht und sind weniger sauer aufeinander, manchmal sogar stolz eigene Lösung gefunden zu haben. 

Prozesse und Prozessänderungen werden vom Team selbst vorgeschlagen und durchgeführt. Sie sehen viel mehr Potentiale, da sie ihre Arbeit jeden Tag auch selbst durchführen. Viele kleine Änderungen brauchen auch nicht gemeinsam beschlossen zu werden, sondern werden schnell umgesetzt, wenn sich Mitarbeiter als die Herren ihrer Prozesse fühlen. Durch die Sprints hat das Team auch die Möglichkeit Prozessänderungen auszuprobieren und wenn sie nicht funktionieren, diese auch wieder zurückzudrehen. Dadurch probiert man viel mehr aus. Wenn Anna mal einen Vorschlag hat, erklärt sie diesen immer mit Kontext und meist findet das Team dann auch einen Weg ein Veränderungsexperiment daraus zu machen.

Motivation und Talente

Bei der Selbstorganisation hat jeder mehr Gelegenheit seine eigenen Talente und Ideen einzubringen. Und mit noch mehr Kontrolle und Verständnis über die eigene Arbeit, gibt es viel mehr Möglichkeiten einer intrinsische Motivation zu folgen. Und das ist der Kern der Motivation. 

Übergangsphase zu diesem selbstorganisierten Zustand (oder warum braucht es Scrum Master?)

Wie kommt Anna nun zu ihrem selbstorganisierten Team? Es ist einerseits leicht und andererseits schwer. 

Es ist leicht, denn es bedeutet “nur” den obigen Prozessrahmen auszurufen und ihn zu aufrecht zu erhalten. Das heißt vor allem:

  • die Arbeit den Kollegen zu überlassen
  • die Arbeitsprozesse den Kollegen zu überlassen
  • konkrete Wünsche zu formulieren, welche Ergebnisse das Team liefern soll
  • dauerhaft langfristige Ziele und Kontext dem Team geben
  • das Team dort zu unterstützen, wo es das Team sich selbst wünscht
  • permanent Feedback zu geben, positiv wie negativ.

Schwer ist es, weil:

  • die Mitarbeiter während sie lernen, Fehler machen werden, die auch Konsequenzen (z.B. nicht abgeschlossene Verträge) mit sich bringen
  • Dieser Raum für Fehler, insbesondere am Anfang, muss erstmal in der Organisation geschaffen werden.
  • Anna eine neue Art zu Führen lernen muss, das wird jetzt ihr Beruf. Das ist eine sehr große Umstellung. Hier eine unvollständige Aufzählung:
    • Anna wird jetzt viel häufiger und detallierter Kontext und Ziele erklären. Insbesondere wenn etwas anders gemacht wurde, als sie es wollte.
    • Anna wird von ihren früheren Wegen die Arbeit zu machen loslassen lernen
    • Anna wird lernen Feedback zu geben, das den Mitarbeitern hilft
    • Anna wird lernen Mitarbeitern mit Fragen zu helfen
    • Anna wird lernen Probleme zurück ins Team zu spielen
    • Anna wird lernen größere Aufgabenpakete miteinander im Wert zu vergleichen und zu priorisieren
    • Anna wird wahrscheinlich die disziplinarische Führung dieser Mitarbeiter abgeben

Es ist aber nicht nur für Anna schwer, sondern wahrscheinlich auch für die Mitarbeiter. Wenn sie vorher in einem klassisch geführten Unternehmen oder an der Uni/Schule waren, dann sind sie Selbstorganisation nicht gewohnt. Für sie stehen typischerweise folgende Entwicklungen an:

  • Mehr Verantwortung (für das “Wie”) als früher zu übernehmen, das heißt auch an mehr Stellen Dinge falsch machen zu können.
  • Lernen als Gruppe verantwortlich zu handeln. Sich nicht hinter der Gruppenverantwortung zu verstecken.
  • Lernen die eigenen Probleme offen gegenüber den Kollegen anzusprechen, auf Augenhöhe. Es ist leichter wenn man “klein” ist und keine Macht hat.
  • Neue Fertigkeiten erlernen, um auch die Kollegen mal ersetzen zu können.

Damit das alles gelingt braucht es einen Coach – einen Scrum Master oder Agile Coach. Das Tätigkeitsfeld eines Scrum Master haben wir in diesem Artikel ausführlich beschrieben. Coaches helfen allen an der Umstellung beteiligten Personen. Sie beobachten das Feld, geben am Anfang viel informativen Input zum Thema Scrum, halten die Struktur. Später geben sie mehr Feedback oder stellen hilfreiche Fragen. Durch Fragen führen sie die Aufmerksamkeit an die Stellen, die den Selbstorganisierungsprozess gerade auf irgendeiner Ebene beschränken. 

Während Anna und ihr Team ihre Aufmerksamkeit vor allem auf der Vertriebsarbeit haben, behält ihr Coach die Aufmerksamkeit auf allen oben aufgeführten Herausforderungen der Umstellungsphase.

Welche Schwierigkeiten erwarten sie bei einer Umstellungsphase? Spielen Sie gerne ein paar fiktive Szenarien durch. Jede Firma kann von agilen Konzepten profitieren, das Spannende ist es die Lernprozesse für alle anzustoßen und zu begleiten. Ich reagiere gerne auf sachliche Kommentare zu diesem Artikel auf Twitter an @Coach_Agile.

Für weiterführende Lektüre empfehle ich folgende Artikel:

Anmerkungen

PS.: In diesem Beitrag geht es mir nur darum den Delegationsaspekt von Scrum zu erklären, deshalb vergleichen wir hier eine Vertriebsabteilung, die klassisch oder mit Scrum funktioniert. Tatsächlich würde ein komplett selbstorganisiertes Unternehmen möglicherweise keine einzelne Vertriebsabteilung haben, sondern in Teams organisiert sein, zu denen auch Vertriebsmitarbeiter dazugehören. Aber das würde diesen auch so schon langen Beitrag noch weiter verkomplizieren…

Das wurde jetzt ein viel längerer Beitrag, als ursprünglich mal geplant. Wenn er Ihnen genützt hat, würde ich mich sehr freuen, wenn sie diesen Beitrag mit anderen teilen oder einfach mir das positive oder auch kritische Feedback geben. 

Danke an meine großartige Frau Julia für die Illustrationen. Falls sie Euch gefallen, Sie macht das beruflich.

Dieser Wissensbeitrag wurde von Anton Skornyakov geschrieben und zuletzt am 24.08.2020 aktualisiert. Danke an Gabriel Schüßler fürs Korrigieren, Kommentieren und Mitdenken.

Über den Autor

Anton Skornyakov

  • Seit 2008 auf dem Pfad der Agilität
  • Erfahrung als Entwickler im Team, Scrum Master, Product Owner, Geschäftsführer und Coach
  • Höchste Zertifizierung: Certified Scrum Trainer® (weltweit ca. 220 Personen) für die Scrum Alliance®
  • Projekte in StartUps, KMU, Konzernen, Non-Profits und öffentlichen Institutionen
  • Begeistert für neue Führung & Agilität außerhalb von Produktentwicklung
  • Buchautor und Speaker auf vielen Konferenzen
  • Geschäftsführer der Agile.Coach GmbH & Co. KG

Zu Antons Profil

Newsletter

Für Neuigkeiten von uns per E-Mail, abonnieren Sie unseren Newsletter.

Nach oben scrollen