Häufig wird im Kontext von Agilität, Scrum und Kanban von „Wissensarbeit“ und „Lernen“ gesprochen. Das führt manchmal zu Unverständnis. Organisationen die agil werden wollen, verstehen sich schließlich nicht als Universität oder Schule. Sie sind in der Regel wirtschaftlich erfolgreiche Unternehmen, die einen konkreten Mehrwert für Kunden erbringen. Ist also der Begriff „Wissensarbeit“ falsch?
Wissen und Lernen als Ergebnis unserer Arbeit
Schauen wir uns beispielhaft die Tätigkeit des Zusammenbauens eines neuen Ikea-Regals an: Es gibt eine grafische Anleitung, du schaust sie an, baust Schritt für Schritt das Regal zusammen. Es könnte passieren, dass du auch mal eine Schraube vertauschen und hin und zurück bauen musst. Es könnte passieren, dass du hier und da stocken bleibst und nochmal verstehen musst, wie die Anleitung gemeint ist. Schließlich ist es vollbracht, das Regal ist nach 2 Stunden fertig.
Wie lange würde es dauern, das genau gleiche Regal noch einmal auf dem gleichen Platz aufzubauen? Du musst immer noch ab und zu in die Anleitung schauen, aber viele Schritte funktionieren sofort. Und sehr wahrscheinlich wirst du nicht noch einmal stecken bleiben oder die falsche Schraube verwenden. Ich habe es mal ausprobiert, bei mir dauerte es dann nur noch halb so lang, also in unserem Beispiel 1 Stunde.
In diesem Beispiel hättest du also in den ersten 2 Stunden Arbeit 1 Stunde physische Arbeit geleistet und 1 Stunde gelernt. Das geschaffene Wissen, ist genau das, was dich im zweiten Durchgang so viel schneller gemacht hat. Das heißt 50% deiner Zeit war Lernen. Das erzeugte Wissen verfliegt aber auch mit der Zeit. Wenn ich das gleiche Ikea-Regal in zwei Jahren noch einmal aufbauen muss, wird es wahrscheinlich wieder 2 Stunden dauern.
Nun sind viele von uns Anfänger, wenn es um das Aufbauen von Regalen geht, schließlich machen wir eher selten. Wenn du dagegen ein professioneller Aufbauer dieser Regale bist, wird dein Lernanteil sicherlich deutlich kleiner als 50% betragen. Aber nicht alle Tätigkeiten sind so.
Schauen wir uns Programmieren, Texte schreiben, Designs entwerfen, Präsentationen aufbauen, Excel-Sheets aufbauen und ähnliche Tätigkeiten an. Und stellen die gleiche Frage:
Nach dem Du mit einer Aufgabe fertig bist, wie lange würde es dauern genau die gleiche Arbeit noch einmal auszuführen?
Ich behaupte, dass typischerweise bei den obigen Tätigkeiten ist es ein Bruchteil der Zeit vom ersten Durchgang. Gemittelt über die Zeit schafft ein guter Programmierers am Tag vielleicht 100 geänderte Codezeilen, das ist eine sehr hohe Zahl. Das hängt natürlich auch von der Sprache, Framework und Zustand der Codebase ab, aber lasst uns mal mit 100 als Zahl rechnen. Wenn der Programmierer am Anfang des Tages genau wüsste welche Zeilen er wie ändern will, würde die reine Schreibarbeit vielleicht 15-20 Minuten dauern. Das heißt wir sprechen von weniger als 5% der Arbeitszeit, die fürs Coden aufgewandt wird, der Rest ist Verstehen und Lernen.
Dabei ist das was man lernt sehr unterschiedlich. Beim Programmieren lernen wir meist wie konkrete Klassen, Templates, APIs entworfen werden können und wie sie miteinander funktionieren. Bei Design ist es das Erfinden von Elementen und Farben und lernen über deren Zusammenspiel. Etc.
Ich hoffe mein Beispiel war überzeugend genug um zu erklären, warum einige Tätigkeiten sehr zutreffend als Wissensarbeit bezeichnet werden können.
Beschaffenheit von Wissensarbeit
Ich möchte über zwei aus meiner Sicht wichtigsten Eigenschaften von Wissensarbeit sprechen: Unsicherheit und Unsichtbarkeit.
Unsicherheit
Das Ergebnis der Wissensarbeit ist häufig ein Deliverable – Präsentation, Feature, Design. In unserem Ikea Beispiel ist es das Regal. Das Deliverable hat einen geschäftlichen Wert an sich. Doch es kann lange dauern bis ein Deliverable steht. Um konkreter den Prozess der Wissensarbeit zu verstehen, sollten wir also auch verstehen, was mit dem Zwischenergebnis passiert, bevor es zum Deliverable wird.
Beim Aufbau des Regals werden wir in der Regel eine grafische Anleitung mit 20-30 Schritten haben. Jeder Arbeitsschritt nach dem man sich das Bild anschaut, stellt eine Feedbackschleife dar. Sieht das Zwischenprodukt so aus, wie auf dem Bild? Von allen Seiten?
So können wir Schritt für Schritt die Unsicherheit im Aufbau des Regals minimieren und sicher sein, dass es am Ende zusammenhält. Wenn wir neue Texte schreibe, Produkte erstellen, Designs entwerfen oder Programmieren, gibt es leider keine Anleitung. Wie wir arbeiten und unsere Arbeit aufteilen sollte uns im besten Fall diese Anleitung ersetzen.
Für jeden Prozess ist es unterschiedlich, was passieren muss um die verschiedenen Unsicherheiten / Risiken zu beseitigen. Aber es gibt grundsätzliche Regeln. Es geht immer um Feedbackschleifen, d.h. Prüfungen des Zwischenergebnisses. Zwei Beispiele:
- Schreibe ich einen Text, so könnte ich nur die Grobstruktur aus Gedankenstrichen aufschreiben und den Text jemanden anhand dieser Grobstruktur erzählen. Oder ich könnte ein Zwischenergebnis einer anderen Person zum Lesen geben. Diese als Peer-Review bezeichnete Technik lässt auf so gut wie jede Form von Arbeit anwenden.
- Bei einem neuen Webprodukt, werde ich zuerst vielleicht Mockups bauen und diese potentiellen Kunden zeigen. Vielleicht sind es Papierprototypen oder Klickprototypen, die aber noch nicht ganz funktionieren. Je nach dem welches Risiko ich für entscheidend halte, werde ich einen anderen Zwischenstand überprüfen.
Unsichtbarkeit
Zweite wichtige Eigenschaft von Wissensarbeit ist, die unmittelbare Unsichtbarkeit der Arbeit. Angenommen wir bauen in einer neuen Wohnung viele neue Möbelstücke auf. Wenn wir wissen wollen, wie weit der Prozess steht, brauchen wir nur einen Durchgang durch die Wohnung zu machen.
Bei Wissensarbeit ist es anders. Die Zwischenergebnisse sind in der Regel Bit und Bytes auf Festplatten. Wenn wir in einem typischen Büro stehen, wissen wir nicht, ob wir gerade viele Deliverables und Zwischenergebnisse zu Verfügung haben. Um dieser Unsichtbarkeit entgegenzutreten führen wir häufig Kanban-Karten/-Boards ein. Diese visualisieren, das was sonst verborgen bleiben würde und erlauben es uns so, bewusst mit den Zwischenergebnissen der Arbeit umzugehen.
Zusätzlich können wir auch das geschaffene Wissen nicht sehen. Das spezifische Wissen verschwindet mit der Zeit. Wollen wir das bestehende Wissen ausnutzen, hat das Auswirkungen darauf wie unser Arbeitsprozess aussieht.
Steigender Anteil der Wissensarbeit
Durch die zunehmende Automatisierung jeglicher physischer Arbeit, wird der Anteil der von der Menschheit erbrachter Wissensarbeit immer größer. Durch diese Entwicklung wird es immer wichtiger sich ehrlich im Umgang mit den inherenten Unsicherheiten der Wissensarbeit zu befassen und mit Transparenz der Unsichtbaren Dinge. Und das sind natürlich nicht zufällig genau die Fundamente der Agilität.
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